Porträt von Christian Schlüchter: Auf der Suche nach der Eiszeit

| So, 30. Jun. 2013

REGION: «Ein Hörsaal mit 300 gebannt zuhörenden ETH-Ingenieurstudenten muss eine Art Begeisterung auslösen», verrät Christian Schlüchter. In einem Interview mit der «D’REGION» blickt er auf seine Tätigkeit als Forscher zurück. red

Für seine Forschungsarbeit war Chris­tian Schlüchter in der ganzen Welt unterwegs. Die geologische Materialaufnahme führte den Quartär- und Umweltgeologen unter anderem nach Kanada, Neuseeland, Asien, Südamerika, Afrika und in die Antarktis. Neben der Gletscherwelt im Ausland untersuchte der emeritierte Professor auch die Schweizer Eiswelt auf ihre Bewegung und leistete einen Beitrag zum Verständnis unserer heimischen Gletscherwelten.

Im Interview mit der «D’REGION» blickt er auf seine Tätigkeit als Forscher zurück, spricht über seine Leidenschaft fürs Lehren und sein Leben nach dem Eintritt in den Ruhestand im vergangenen Sommer.

«D’REGION»: 1973 haben Sie nach dem Erlangen der Matur am Gymnasium Burgdorf am Institut für Geologie der Universität Bern promoviert. Was war ausschlaggebend dafür, dass Sie sich damals für ein Geologiestudium entschieden haben?
Die Matura war für mich nicht Lebensziel, sondern ein notwendiger Schritt, um Naturwissenschaften studieren zu können. 1963/64 brauchten wir zu Hause eine geologische Expertise in einer quellenrechtlichen Angelegenheit. Der auftretende Experte, ein Professor aus Bern, hat mich dann an Sonntagen als Fossilienjäger ins Gebiet Blasenfluh – Moosegg geschickt. Je mehr Versteinerungen ich nach Bern schleppte, umso «nachhaltiger» wurde ich betreut und das Taschengeld wurde auch entsprechend erhöht. So habe ich, gewissermassen schon vor der Matur 1966, bei einem Privatlehrer Geologie studiert. Dieser Experte / Privatlehrer war dann später mein Doktorvater.

«D’REGION»: Sie sind in Ihrer Karriere weit herumgekommen. Sie haben in Bern studiert, anschliessend führte Sie die geologische Materialaufnahme in alle Welt: Sie forschten unter anderem in Kanada, Neuseeland, Asien, Süd­amerika, Afrika und der Antarktis. Wenn Sie zurückblicken auf Ihre Zeit als Forscher, was waren die besonders schönen Momente? Gab es spezielle Highlights, an die Sie sich gerne erinnern?
Diese Frage kann ich nicht einfach so beantworten. Die ganze Zeit war eigentlich ein Highlight nach dem anderen. Und wir haben auch einmal abgemacht, dass, wenn wir nicht mehr Freude an unserer Arbeit haben sollten, wir sofort mit dieser Eiszeitenforschung aufhören. Aber sofort! Dem war bis jetzt nicht so. Natürlich war die erste Antarktisexpedition etwas Besonderes, vielleicht vom gleichen Ausbildungswert wie das ganze Studium. Und zu wissen, dass an dieser Stelle auf diesem Berg im Transantarktischen Gebirge vorher noch nie ein Mensch gewesen ist. Das ist speziell (auch im Napfgebiet gibt es viele Gegenden, wo vorher noch nie ein Geologe durchgegangen ist!). – Oder dann dieses unbeschreiblich klare späte Abendlicht in den Polargebieten (speziell nach einem Sturm), wo dann die Erde so sagenhaft klar daliegt. Unvergesslich. Wir haben auch einfach Glück gehabt, denn nie haben wir Probenmaterial verloren. Einmal ist eine Sendung arg beschädigt worden; aber nur einmal. Und wir hatten auch keine «blinde Unternehmung». Jedes Mal hatten wir etwas Neues. Natürlich ist es speziell, in einem recht romantischen Zelt im Urwald von Hokkaido einen Monsunregen zu erleben = 2 Tage Dauerdusche. Oder in einem Tibeterzelt in der absoluten Stille neben den Pferden einen Mittagschlaf zu geniessen. – Das wissenschaftliche Highlight ist sicher die Entwicklung der Methode der «Oberflächenaltersbestimmung» gewesen. Das war neu und mit dieser Methode kann man die Liegezeit zum Beispiel eines Findlings bestimmen. Das war eine neue Dimension in der Eiszeitenforschung. Unsere Arbeitsgebiete waren ja weit weg von der Zivilisation. Irgendwo im Gebirge. Und da waren es schon die Begegnungen mit Menschen, die unvergesslich sind. Ich hatte oft den Eindruck, dass in allen Bergen der Erde Emmentaler leben. Nur etwas andere Sprachen sprechen. Es gibt wirklich nichts, aber auch gar nichts, an das ich nicht gerne zurückdenke.

«D’REGION»: Was war das kurioseste Erlebnis während Ihrer Arbeit?
Da gäbe es natürlich viele Geschichten. Bärengeschichten, etc. Aber eine ist etwas speziell: Das war 1983 oder 1984 im Urwald von Hokkaido. Ich war damals zusammen mit einem österreichischen Kollegen eingeladen, endlich das Problem der eiszeitlichen Vergletscherung von Nordjapan zu lösen. Das war Feldarbeit, und zwar in unberührtem Gebiet von Hokkaido. Vorwärts kommt man nur den Flüssen entlang oder besser durch die Flüsse. Und so kommen wir auch eines Tages von einer Tagestour weit hinauf ins Gebirge wieder zurück in Richtung Zeltlager. Wir haben uns verspätet und es wird bedenklich rasch dunkel. Und unser japanischer Chef, ein älterer Professor aus Kyoto, bleibt zurück. Bei einer kurzen Rast merken wir das und beschliessen, den sportlichsten von unseren japanischen Assis­tenten zurückzuschicken, um dem Professor zu helfen. Wir gehen weiter talabwärts (man muss sich vorstellen: kein Wanderweg, nur ein Bachbett ungefähr wie die Emme zwischen Schangnau und Kemmeriboden...). Nach einer Stunde kommen wir im Lager an – und der alte Professor sitzt zufrieden vor seinem Zelt und grinst! Wie geht das? Er müsste uns also überholt haben. Das wäre nur bei unserer Rast möglich gewesen. – Einer der Studenten erklärt mir dann später, «dass Prof. Horie vielleicht einen Trick benutzt habe, um zum Camp zurückzukommen...». Und was denn? Ja, es gebe eben Menschen, die mehr könnten als andere... vielleicht sei er ja geflogen...  Offenbar eine andere Welt; aber eine reiche und eine phantastische. – Nur wir mussten am anderen Morgen wieder zu Fuss den nächsten Graben hinaufsteigen...

«D’REGION»: Neben Ihrer Tätigkeit als Forscher sind Sie einer reichen Tätigkeit als akademischer Lehrer unter anderem in China, an der ETH Zürich und seit 1993 am Institut für Geologie der Universität Bern nachgegangen. Sie haben sich diesen vielfältigen Aufgaben nicht nur als Dozent, sondern beispielsweise auch als Studienberater mit grosser Begeisterung gewidmet. Woher kam diese Leidenschaft fürs Lehren?
Ich weiss es nicht. Ich war vor jeder Vorlesung und jetzt noch vor jedem Vortrag nervös. Vielleicht braucht es das, auch wenn ich gerne spreche. Aber es gibt natürlich so eine Wechselwirkung zwischen Zuhörenden und Vortragenden. Und wenn Sie einen Hörsaal mit 300 Ingenieurstudenten (an der ETH) vor sich haben, die Ihnen zuhören, dann muss das doch auch eine Art Begeisterung im Vortragenden auslösen. Vielleicht ist es auch, dass mich die Sprache interessiert, also die Wahl der Worte und der Klang derselben. Eine Vorlesung muss ein Erlebnis sein, für beide Seiten. – Und stellen Sie sich vor: Freitagmorgen um 8 Uhr, Vorlesung bis 10 Uhr. Der Hörsaal ist voll und neben der Türe ist ein riesiger Stapel von Taschen und Koffern. Die gehen alle um 10 Uhr ins Wochenende. Aber weshalb sind sie nicht schon am Donnerstag­abend gegangen? – Und schliesslich war ich ja auch als Lehrer angestellt.

«D’REGION»: Neben der Gletscherwelt im Ausland untersuchen Sie auch die Schweizer Eiswelt auf ihre Bewegung u. a. in den letzten 10 000 Jahren. Vor rund sechs Jahren kamen Sie aufgrund Ihrer Forschung zum Schluss, dass die Schweizer Gletscher nach der letzten Eiszeit selten so stark ausgebildet waren wie heute. Wie reagierten Forscherkollegen auf diese Erkenntnis?
Wie das halt so geht: abwartend, leicht verärgert, und je mehr Daten wir gebracht haben, natürlich auch umso eifersüchtiger. Aber das ist normal. Zuerst hatten wir Probleme mit Veröffentlichungen; aber das ist vorbei. – Die weiteste Gletscherausdehnung seit der letzten Eiszeit war vor ca. 160 Jahren (= Maximum der Kleinen Eiszeit, das habe aber nicht ich erfunden). Diese ganze Diskussion ist dann 2011 wieder sachlich geworden mit unserem Nachweis am Rhonegletscher (mit der Methode der kosmogenen Isotope), dass der Felsriegel, also dort wo der Gletscher jetzt zurückschmilzt, während den letzten 10 000 Jahren während mindestens 50 Prozent der Zeit kleiner war als heute und der Fels bestrahlt werden konnte. Das war ein methodisches Highlight, eine vom radioaktiven Kohlenstoff in Holz beispielsweise, unabhängige Methode zu haben.

«D’REGION»: Mit Ihrer These, «Die Alpen waren mehrheitlich grüner, als sie es heute sind», haben Sie die gängige Meinung zur Klimaerwärmung widerlegt. Gibt es den vom Menschen verursachten Klimawandel oder teilen Sie allen Unkenrufen zum Trotz die Sorge, dass die Gletscher wegschmelzen, nicht?
Darf ich hier etwas präzisieren? Ich habe keine Meinung widerlegt. Wir haben nur aufgezeigt, dass die Gletscher in der Vergangenheit mehrmals (zwischen Wiedervorstössen) kleiner gewesen sind als 2005, und wir wissen auch, wie weit oben die Gletscherzungen damals lagen. Die Klimaerwärmung heute ist eine Tatsache; bis wir aber kausal wissen, weshalb die Kleine Eiszeit vor 160 Jahren zu Ende gegangen ist und die Gletscher vor dem CO2-Anstieg zurückgeschmolzen sind, gibt es offene Fragen in diesem Problemkreis. Es scheint auch, dass der Mensch spätestens so ab den 1950er-Jahren einen Einfluss hat. Mein Hauptanliegen ist es zu zeigen, dass das System Klima – Gletscher offenbar viel dynamischer ist, als vor ein paar Jahren noch angenommen wurde.
Und als Geologe bin ja nicht Prognostiker, sondern betrachte halt eine etwas längere Zeitreihe, als unsere Eintagsmodelliergesellschaft das tut. Solange wir die wirkliche Ursache, also die Steuerung der Kippeffekte von kalt zu warm oder umgekehrt, nicht kausal kennen, haben wir eine offene Frage. Und als Geologe kann ich mich doch nicht um die Gletscher sorgen; und ich masse mir auch nicht an, dass ich die Gletscher oder das Klima oder die Erde retten muss. Ich will nur zeigen, wie es auch war (Blümlisalpsagen lassen grüssen...). – Meine klimagesteuerte Weitsicht besteht darin, dass wir ein Minergiehaus bewohnen, immerhin...!

«D’REGION»: Seit vergangenem Sommer sind Sie nun emeritiert, wie fühlt sich das an?
Es ist einfach so und es kommt ja nicht unerwartet. Also kann man sich damit beschäftigen. Und es soll ja auch Veränderungen geben, sonst wäre ich enttäuscht, wenn gar nichts passiert. Bis jetzt bin ich ganz zufrieden mit dem Zustand. Es ist auch klar, dass man einen neuen (und jetzt den eigenen) Rhythmus suchen muss.

«D’REGION»: War es schwierig für Sie, Abschied zu nehmen?
Nein, überhaupt nicht. Man nimmt ja nur von einer Institution Abschied und nicht von der Sache und nicht von Menschen.

«D’REGION»: Nach der Abschiedsvorlesung im vergangenen Juni liessen Sie sich vor dem Apéro riche den Bart abrasieren. Welche Bedeutung hatte das Entfernen Ihres Vollbartes im Hinblick auf Ihre Pensionierung für Sie?
Woher wissen Sie das alles? Das ist unheimlich, wie gut Sie über mich Bescheid wissen! Wir sind uns doch noch gar nie begegnet?
Also, das mit dem Bart war eine sehr, sehr gute Aktion. Es war keine Wette, kein Gag und keine Vergewaltigung und kein Skandal. Sondern es war die Idee / Vorstellung von Studierenden, dass man so einen Übergang sichtbar machen müsste. Und eigentlich muss etwas weg (aufgegeben werden), damit etwas Neues wachsen kann. Gibt es etwas Befriedigenderes am Ende einer Karriere, als dass die «junge Umgebung» einem Alten «hilft», etwas Neues wachsen zu lassen?
Und das Beste war doch: Der alte Zopf ist in der Aula der Universität gefallen. Das hat es vorher noch nie gegeben.

«D’REGION»: Wie viele Stunden pro Tag beschäftigen Sie sich auch nach der Emeritierung noch immer mit der Geschichte der Eiszeiten und der Quartärgeologie?
Zwischen 0 und 24.

«D’REGION»: Haben Sie weitere Forschungsprojekte geplant?
Immer noch die Eiszeiten. Ich bin noch mit Doktorierenden in der Nordost-Türkei an einem Projektabschluss. Dann haben wir ein neues Nationalfondsprojekt gemeinsam mit der Umweltphysik in Bern und der Universität Innsbruck über die Gletscherhölzer erhalten (etwas, das mich uneingeschränkt freut, auch besonders für meine Kollegen!). Und dann bin ich noch Teil einer Forschergruppe im allernördlichsten Norwegen (Thema: das Ende der letzten Eiszeit im hohen Norden). Und immer noch und immer mehr beschäftigt mich die Vergletscherung des Napfgebiets. – Also immer noch das Gleiche.

Angaben zur Person
Jahrgang: 1947
Geburtsort: Sumiswald
Schulzeit: Gymnasium Burgdorf
Zivil-/Familienstand: verheiratet, drei erwachsene Kinder
Hobbys:    Imkerei, Briefmarken, Singen
Nach dem Erlangen der Maturität am Gymnasium Burgdorf promovierte Chris­tian Schlüchter 1973 am Institut für Geo­logie der Universität Bern. Neben seiner Tätigkeit als Gletscherforscher ging er einer reichen Tätigkeit als akademischer Lehrer unter anderem in China, an der ETH Zürich und seit 1993 am Institut für Geologie der Universität Bern nach. Am Institut für Geologie der Universität Bern war er bis im vergangenen Sommer Inhaber des Lehrstuhls für Umwelt- und Quartärgeologie. Neben der Beschäftigung mit der Geologie von Gletschern befasste sich sein Team mit Umweltgeologie. Am 12. Juni 2012 hielt Christian Schlüchter seine Abschiedsvorlesung zu dem Thema: «…er ist weg; aber immer noch da…» (oder auf der Suche nach der Eiszeit).

Interview: nwb

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