Auch Patienten/-innen sammeln Daten

  28.02.2024 Aktuell, Bildung, Burgdorf, Gesellschaft, Region

Das Smartphone zählt die täglich gelaufenen Schritte, die Smartwatch trackt den nächtlichen Schlaf und über eine App werten wir unsere Herzfrequenz aus. Sogenannte «Wearables» gehören zum Alltag. Zunehmend werden die selbst erhobenen Daten aber auch Teil der Gespräche zwischen Arzt oder Ärztin und Patientinnen beziehungsweise Patienten.
Bei den Behandelnden stellt sich immer häufiger die Frage, wie sie mit den Daten umgehen sollen und welchen Einfluss diese auf die Beziehung zwischen Arzt/Ärztin und Patient/Patientin haben. Dr. med. Gabriel Wald­egg, Leitender Arzt Medizin im Spital Emmental, und sein Kollege Dr. med. Neal Breakey, Oberarzt Medizin, zeigen auf, mit welchen Chancen und Herausforderungen die Digitalisierung in der Medizin verbunden ist und vor welche Herausforderungen alle Involvierten – Behandelnde ebenso wie Patientinnen und Patienten – gestellt werden.

«D’REGION»: Wie hat sich die Medizin durch die Digitalisierung verändert?
Gabriel Waldegg: Die Digitalisierung prägt seit geraumer Zeit ärztliche, pflegerische und administrative Tätigkeiten im Spitalalltag durch technologische Abläufe, sie ist eine Realität und Herausforderung. Die digitale Durchdringung geschieht einerseits klar erkennbar, beispielsweise bei der Benutzung des Klinikinformationssystems, andererseits aber auch im Hintergrund wie bei der Weiterverwendung und Verarbeitung von generierten Patientendaten durch die Krankenkassen oder in einem behördlichen Register (Beispiel Krebsregister). Das Potenzial des digitalen Fortschritts und der künstlichen Intelligenz (KI) im Gesundheitswesen wird so hoch eingestuft, dass gewisse Stimmen eine deutlich verbesserte Behandlungsqualität durch KI-gestützte Systeme und sogar einen Ersatz von ärztlichen und pflegerischen Aktivitäten voraussagen. Dabei werden insbesondere die Präzision, die Zuverlässigkeit und die Effizienz sowie das immense Potenzial von selbstlernenden und selbstkorrigierenden Systemen ohne Abhängigkeit eines subjektiven, institutionellen oder kulturellen Hintergrunds hervorgehoben.

«D’REGION»: Hat denn die Digitalisierung den Spitalalltag bereits komplett erobert?
Gabriel Waldegg: Im Unterschied zu zukünftig erwarteten Szenarien mit Algorithmen und KI-gestützten Systemen beschränkt sich die aktuelle Anwendung digitaler Technologien, wie ich sie im Spitalalltag erlebe, nach wie vor auf einzelne digital fragmentierte Betätigungsfelder. Zunehmend wird die angestrebte und erwünschte Verknüpfung verschiedener Systeme, seien es medizinische Disziplinen oder einzelne Spitäler, spürbar. Digitale Technologien in der heutigen klinischen Anwendung dienen in erster Linie als Hilfsmittel zur Bewältigung des medizinischen Arbeitsalltags, fordern aber durch ihre rasante Entwicklung ihre Anwenderinnen und Anwender auch heraus. Trotz fortschreitender Technologisierung und Digitalisierung prägt glücklicherweise nach wie vor die persönliche Arzt-Patienten-Beziehung mit ihrer Emotionalität, Empathie, Normativität und ihrem Vertrauensverhältnis den medizinischen Alltag.

«D’REGION»: Wie hat sich Erstellung von Diagnosen aufgrund der Digitalisierung in den letzten Jahren verändert?
Neal Breakey: Die Kunst der Diagnose, die darin besteht, die Symptome einer Patientin, eines Patienten im Gespräch zu erkunden, sie zu untersuchen, über mögliche Diagnosen und deren Wahrscheinlichkeiten nachzudenken und zusätzliche Tests durchzuführen, hat sich nicht verändert und ist nicht verloren gegangen. Mit der zunehmenden Verbreitung digitaler Geräte besteht jedoch die Möglichkeit, dass die Menge und Art der Daten, die wir erhalten, enorm zunimmt.
Auf der Notfallstation erleben wir diese Veränderungen gerade erst – eine Schätzung geht davon aus, dass etwa 20 Prozent der Schweizer Bevölkerung irgendwann in der Woche ein Wearable (Gerät zur Überwachung der Gesundheit) zur Herzfrequenzmessung verwenden. Diese Rate ist viel höher als unsere Alltagserfahrung im Spital.

«D’REGION»: Mit welchen Wea­r­bles sind Sie am häufigsten konfrontiert?
Neal Breakey: In gewissem Sinne sind Wearables etwas, das Spital- und Haus­ärztinnen und -ärzte schon seit vielen Jahren verwenden – Blutzuckermessgeräte oder die Langzeitaufzeichnung von Herzkurven oder Blutdruck sind gut etabliert und in den Leitlinien aufgeführt, die wir für die Diagnose vieler häufiger Krankheiten verwenden. Vor fünf Jahren war es noch relativ selten, dass Patientinnen und Patienten Messwerte von Smart Devices mit in die Sprechstunde brachten. Spitzensportlerinnen oder passionierte Radfahrer erwähnten vielleicht Messungen wie «VO2 max» (maximale Sauerstoffkapazität).
In der heutigen Zeit kommen wir immer häufiger damit in Kontakt: Auf der Notfallstation oder in der Tagesklinik kommen Patientinnen und Patienten mit EKG-Aufzeichnungen ihrer Smartwatch. Fragen zu den Blutdruckmessungen ihrer Geräte oder in den Spitzenzeiten von COVID-19 zu den Sauerstoffmessungen zu Hause sind keine Seltenheit mehr. Schlafdauer und -muster, Messungen der Herzfrequenzvariabilität und aufwendigere Messungen mit teuren Geräten wie die Muskelsauerstoffsättigung sind bei unseren Notfallpatientinnen und Notfallpatienten seltener, werden aber gelegentlich in Spezialsprechstunden oder im Rahmen der Sportmedizin thematisiert.

«D’REGION»: Können Ihnen selbst erfasste Daten bei der Diagnose bzw. Behandlung helfen? Wie gehen Sie mit diesen Daten um?
Neal Breakey: Die selbst erhobenen Daten vermitteln ein Bild des Gesundheitszustandes und Abweichungen in den Aufzeichnungen können unterschiedliche Auswirkungen haben – manchmal können sie beunruhigend sein oder uns auf eine falsche Spur führen, manchmal können sie aber auch der Schlüssel zu einem besseren Verständnis der Situation sein.

«D’REGION»: Welche Grenzen gibt es bei den selbst erfassten Daten?
Neal Breakey: Die Interpretation der Daten von Wearables ist eine Herausforderung. Auf der einen Seite haben wir bereits eine gewisse Erfahrung mit den eingesetzten Technologien – wir haben zum Beispiel lange Erfahrung mit Einzelableitungs-EKGs. Auf der anderen Seite gibt es nur wenige grössere Studien, die uns sagen, wie diese Geräte und Algorithmen in der Praxis tatsächlich funktionieren. Messungen von einem Gerät zu haben ist das eine; genau zu wissen, dass es sicher ist, eine Therapie auf der Grundlage dieser Messungen zu starten, ist etwas anderes.

«D’REGION»: Gibt es bereits Studien zur Zuverlässigkeit der Wearables?
Neal Breakey: Bereits 2019 erschien in einer renommierten medizinischen Fachzeitschrift die erste wirklich grosse Studie zur Apple Watch, die zwar zeigte, dass das Gerät Potenzial hat, aber nicht ausreicht, um die Tests zu ersetzen, die wir normalerweise durchführen würden. Vor allem in den letzten zwei Jahren gab es viele weitere sehr interessante Studien, darunter mehrere von Herzrhythmusexperten in Basel, welche die Genauigkeit vieler anderer Geräte bei Patientinnen und Patienten mit bekannten Herzrhythmusstörungen untersucht haben.
Was die Blutdruckmessung mit Smartwatches betrifft, gibt es zwar Studien, welche die Genauigkeit unter kontrollierten Bedingungen bei gesunden Probanden belegen, aber es fehlen gross angelegte Studien in der realen Welt, um zu entscheiden, ob wir die Therapie aufgrund dieser Messungen ändern sollten. Kürzlich las ich auf einer Packungsbeilage, dass eine bestimmte Smartwatch nicht von Personen mit Herzproblemen, Nierenerkrankungen, Diabetes oder anderen Herz-Kreislauf-Erkrankungen verwendet werden sollte. Ich hoffe, dass sich diese Diskrepanz zwischen Verfügbarkeit und Nutzen für bestimmte Patientengruppen in Zukunft ändern wird, je mehr wir uns mit diesen Geräten auseinandersetzen.

«D’REGION»: Haben Ärztinnen und Ärzte heute mehr oder eine andere Verantwortung aufgrund der Digitalisierung und der erhobenen Daten?
Gabriel Waldegg: Ärztinnen und Ärzte müssen sich zunehmend mit einer grossen Menge an Gesundheitsdaten einer einzelnen Person auseinandersetzen. Diese Daten umfassen unter anderem Krankengeschichten, Diagnosen, genetische Informationen sowie Labor- und Bildbefunde. Sie sind im Vergleich zu früher unglaublich schnell verfügbar und lassen sich immer leichter verknüpfen, was auch bessere Rückschlüsse auf das individuelle Verhalten erlaubt – im positiven wie im negativen Sinn. Die Aufgabe und die Verantwortung von Ärztinnen und Ärzten besteht darin, die Daten zu gewichten und in den richtigen medizinischen Zusammenhang zu stellen. Gerade weil das Sammeln von Gesundheitsdaten auch durch Patientinnen und Patienten immer leichter wird und somit das Wissensmonopol nicht mehr nur bei der Ärzteschaft liegt, kommt den Ärztinnen und Ärzten eine gewisse Übersetzungsfunktion zu. Die Kenntnisse von persönlichen Gesundheitsdaten und die aktive Beteiligung am Behandlungsprozess durch Patientinnen und Patienten können sehr wohl erwünscht sein. Sie erhöhen die Patientenautonomie, bergen aber auch die Gefahr der Überschätzung und entbinden die Ärztinnen und Ärzte nicht von ihrer Verantwortung für ärztliche Entscheidungen und Therapien.

«D’REGION»: Beeinflusst die Digitalisierung die Beziehung zwischen Behandelnden und Patientinnen und Patienten?
Gabriel Waldegg: Wir erleben jetzt immer häufiger, dass Patientinnen und Patienten mit ihren eigenen Gesundheitsdaten in die Sprechstunde oder in die Notfallstation kommen und möchten, dass diese Daten in die Beurteilung einfliessen. Das Wissen um die eigenen Gesundheitsdaten gibt den Patientinnen und Patienten mehr Kompetenz im Sinne der Datensouveränität. Dies beeinflusst natürlich die Arzt-Patienten-Beziehung, «der Doktor» verliert in gewissem Sinn seine alleinige «Entscheidungsmacht». Allerdings kann der grossflächige Einsatz von Gesundheitsapps auch einen gewissen Druck auf Patientinnen und Patienten ausüben und sollte kritisch diskutiert werden. Das zunehmende Erfassen von Daten kann schnell in eine Überwachung von gesundheitsrelevantem Verhalten ausschlagen. Wird der Lifestyle ins Visier genommen, erlaubt das eine leichtere Identifikation und Kategorisierung von Risikofaktoren und Risikogruppen, was wiederum zu einer Belohnung oder Sanktionierung führen könnte. Das Monitoring von Gesundheitsdaten ist nicht ein alleiniger Garant für die Patientenautonomie.

«D’REGION»: Wie schätzen Sie die zukünftigen Entwicklungen der digitalisierten Medizin ein?
Gabriel Waldegg: Ich denke, dass die Digitalisierung unseren medizinischen Alltag weiterhin und noch in grösserem Ausmass revolutionieren wird. KI wird es möglich machen, präzise Prognosen über eine Diagnose oder Therapie aufgrund von umfassend analysierten und grossen Datenmengen einer Einzelperson zu machen. KI wird die klinische Tätigkeit unterstützen, zum Wohle von Patientinnen und Patienten. Auch digitale Anwendungen in der pflegerischen Versorgung werden den Spital- und Pflegealltag massgeb­lich beeinflussen. Durch verknüpfte Aktivitätssensoren, Monitoring und Videoüberwachung können immer mehr Echtzeit-Daten erhoben werden und Hilfe in der Betreuung von Patientinnen und Patienten leisten. Allerdings gilt es zu bedenken, dass digitale Unterstützungssysteme die Gesundheitsversorgung zunehmend vereinheitlichen und standardisieren werden. Der Vorteil der KI liegt in ihrer Präzision, ihrer Zuverlässigkeit und ihrer schier unendlichen Möglichkeit, auf Daten zurückgreifen zu können – und dies meist noch fehlerfrei. Trotz dieser Kapazität und Lernfähigkeit wage ich jedoch zu behaupten, dass digitale Systeme die Ärztin oder den Pflegefachmann wohl nie ersetzen werden. Die Patientin oder der Patient lässt sich schlussendlich nicht vermessen. Die Arzt-Patienten-Beziehung ist von emotionalen, sozialen und nicht quantifizierbaren Faktoren geprägt – die Medizin ist eine Kunst. Die von Patientinnen und Patienten häufig gestellte Frage nach dem «Warum ich?» kann ausschliesslich in einer vertrauensvollen Beziehung und in gegenseitigem Verständnis erörtert werden.

zvg

Vorträge: Donnerstag, 7. März 2024, 19.00 Uhr, im Kurslokal (EG) im Spital Emmental, Oberburgstrasse 54, Burgdorf; Donnerstag, 21. März 2024, 19.00 Uhr, im Spital in Langnau.


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